In vieler Munde, wenn es im kernchristlichen, evangelikalen oder „konservativen“ Bereich um PROPHETIE geht, sind natürlich Bücher der Bibel wie Offenbarung, Hesekiel, Jesaja und Daniel, neben anderen Propheten der Bibel, hoch im Kurs. Damit gibt man sich zufrieden, und das ist – je nach Lehrmeinung und Ansicht – auch legitim, denn alles andere wird häufig als „okkult“ oder sogar „verführungsverdächtig“ angesehen.

Prophetie über die Jahrhunderte hinweg

Leider wissen viele der heutigen Christen nicht, dass es über die letzten Jahrhunderte hinweg stets Menschen gab, die nicht im Okkultismus behaftet waren, aber dennoch behaupteten, Schauungen der Zukunft zu haben – und dies teilweise sehr präzise. Ob Hildegard von Bingen, Meister Eckhart oder sogar Luther, der Säulenheilige des Protestantismus – diese im Mittelalter und in der Renaissance angesiedelten Persönlichkeiten schauten auf die Völker und Länder und schrieben ihre Gegenwarts- und Zukunftsschauungen nieder.

Offenheit gegenüber Gottes Reden

Als pfingstlicher und charismatischer Theologe nehme ich solche Phänomene nicht mit Befremden zur Kenntnis, sondern im Gegenteil: Ich rechne auch heute noch mit Gottes Reden durch die verschiedensten Menschen. Ich schließe weder die Phänomene der Anfänge des Christentums – wie die Ausgießung des Heiligen Geistes – noch dessen Begabungen als wirksam durch alle nachfolgenden Jahrhunderte aus. Im Gegenteil: Der lebendige Gott spricht auch heute noch so lebendig wie ehemals durch Menschen zu Menschen.

Moderne Beispiele prophetischer Phänomene

Auch heute gibt es Prophetie und Seher (der Unterschied zwischen beiden Kategorien wird hier nicht vertieft) in und aus verschiedenen Traditionen und Glaubenshintergründen. Ob dies die Schauungen eines Alois Irlmaiers, das „Lied der Linde“, die sogenannten „Feldpostbriefe“ oder die Prophetie einer pfingstlichen Schwester aus Norwegen über „endzeitliche“ Entwicklungen sind – oder im gottesdienstlichen Kontext eine persönliche Prophetie, Zuspruch oder Schau in eine Situation persönlicher Natur: Die Frage, die man stellen sollte, ist, ob Gott heute noch spricht. Will er mit Menschen reden? Will er sie in ihrer Sprache und durch ihre Seher oder Propheten ansprechen? Will er sie in ihrer Kultur und für ihren Kulturkreis auf gewisse Themen, Missstände und im Himmel gefasste Beschlüsse vorbereiten?

Frei nach dem Wort des Sehers und Propheten Amos im Alten Testament:
„Gott der HERR tut nichts, er offenbare denn seinen Ratschluss den Propheten, seinen Knechten. Der Löwe brüllt, wer sollte sich nicht fürchten? Gott der HERR redet, wer sollte nicht Prophet werden?“ (Amos 3:7–8)

Wenn man davon ausgeht, dass Gott lebendig ist und nach dem neutestamentlichen Befund seinen Geist auf alles Fleisch ausgegossen hat, kann man auch heute davon ausgehen, dass er sich seine „Seher“ und „Propheten“ aussucht und zu den Menschen sendet.

Die Prüfung der Geister

Natürlich stellt sich nun die Frage nach der Gültigkeit dieses oder jenes Propheten oder Sehers. Dies ist zunächst nicht Gegenstand dieses Artikels. Es soll lediglich festgestellt werden, dass diese Phänomene bis zum heutigen Tage stattfinden – im Großen wie im Kleinen, im öffentlichen wie im privaten Bereich. Es kommt darauf an, wenn es diese Phänomene gibt, die Geister und die Verlässlichkeit zu überprüfen. Eine Negierung und Verleugnung der Existenz von Propheten und Sehern bis in unsere Zeit hinein ist weder hilfreich noch biblisch. Auch wenn in der sogenannten Endzeit laut Matthäus 24 viele „falsche Propheten“ auftreten werden, zeigt dies doch, dass es auch wahre Propheten geben muss.

In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass in der genannten Bibelstelle „Prophet“ eher ein Prediger oder Bibellehrer ist (ein Verkünder in der Gemeinde), was auch in Form von Predigt und Lehre geschehen kann. Ein Seher ist hingegen nicht zwingend ein klassischer „Prophet“ – aber diese Differenzierung sprengt den Rahmen dieses Artikels. Sie sei nur beiläufig erwähnt, da es hier vorrangig um die Personengruppe der Seher und Zukunftsschauer geht.

Erfahrungen und Verantwortung

Welche Prophetie glaubwürdig ist und welche nicht, liegt auf einem anderen Blatt. Man sollte durch reife Christen anhand der Schrift die Aussagen prüfen und mithilfe der hoffentlich vorhandenen Gabe der Geisterunterscheidung entscheiden, wie es in 1. Johannes 4:1 beschrieben wird:
„Ihr Lieben, glaubt nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt.“

Eine Einzelfallprüfung ist unumgänglich. Sie wird von den Aposteln empfohlen und ausdrücklich gefordert. Ich selbst beobachte seit mindestens 20 Jahren die sogenannte prophetische Szene und habe reichlich Erfahrungen gesammelt – sowohl mit erstaunlichen Phänomenen als auch mit klarer Scharlatanerie. Doch selbst der Missbrauch von Prophetie ändert nichts an der Tatsache, dass Gott zu den Menschen spricht.

Das Reden Gottes heute

Die Behauptung, dass die Zeiten der Prophetie und der Gaben vorbei seien, ist eine theologische Konstruktion, die der Gemeinde Jesu mehr schadet als nützt. Sie gleicht einem Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Ein geschlossenes Weltbild, das keine göttlichen Eingriffe zulässt, mag bequem sein, doch es widerspricht dem lebendigen Gott, der spricht und gehört werden will. Die Dreieinigkeit besteht aus Vater, Sohn und Heiligem Geist – nicht aus Vater, Sohn und Heiliger Schrift. Der Geist Gottes ist lebendig und wirksam.

Fazit

Die Grundlage unseres Glaubens besteht nicht im Vertrauen auf Tagesprophetien, sondern in der lebendigen Beziehung zu Jesus Christus, dem auferstandenen Sohn Gottes. Dennoch bleibt die Tatsache, dass Gott auch heute durch seinen Geist und durch Menschen spricht. Diese Phänomene zu prüfen, ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance: Sie zeigen, dass Gott an den Menschen interessiert ist und aktiv in ihrem Leben wirkt.